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8. März 2019Gülen in Le Monde – „Islam und Demokratie sind vereinbar“
„Die türkische Demokratie hat versagt, weil sie islamische Werte verraten hat.“ Das schrieb der muslimische Gelehrte Fethullah Gülen in einem Gastbeitrag für die französische Zeitung „Le Monde“.
Hier finden Sie den originalen Gastbeitrag in französischer Sprache.
Hier finden Sie den Gastbeitrag in türkischer Sprache.
SAYLORSBURG. Die Türkei wurde Anfang der 2000er Jahre als Beispiel für eine moderne muslimische Demokratie gepriesen. Die derzeitige Regierungspartei, die 2002 an die Macht kam, setzte Reformen um, die sich an den demokratischen Standards der Europäischen Union orientierten, und die Menschenrechtsbilanz des Landes begann, sich zu verbessern.
Leider waren die demokratischen Reformen nur von kurzer Dauer. Der Prozess kam nur wenige Jahre später zum Erliegen, und nach seinem dritten Wahlsieg im Jahr 2011 vollzog der damalige Premierminister und jetzige Präsident Erdogan nun eine komplette Wende. Durch den Rückfall in einen Autoritarismus ist die Türkei nicht länger Vorbild, an dem sich andere Länder mit muslimischer Mehrheit orientieren könnten. Manche glauben im Negativ-Beispiel der Türkei unter Erdogan einen Beweis für die Inkompatibilität von demokratischen und islamischen Werten zu erkennen. Doch dies wäre ein falscher Schluss.
Obgleich der Islam angeblich als Wertebasis dient, stellt das Erdogan-Regime einen völligen Verrat an islamischen Grundwerten dar. Bei diesen Grundwerten geht es nämlich nicht um die Art und Weise, wie man sich kleidet, und auch nicht um den Gebrauch religiöser Phrasen. Stattdessen umfassen sie die Achtung der Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz, die Rechenschaftspflicht der Machthaber sowie die Wahrung der unveräußerlichen Rechte und Freiheiten jeder Bürgerin und jedes Bürgers. Der aktuelle Rückschlag der demokratischen Entwicklung in der Türkei beruht nicht auf der Einhaltung dieser islamischen Werte, sondern vielmehr auf ihrem Verrat.
Die türkische Gesellschaft ist nach wie vor besonders heterogen. Ob Sunnit oder Alevit, Türke, Kurde oder Angehöriger einer anderen Ethnie, Muslim oder Nicht-Muslim, religiös oder säkular: Türkische Bürger gehören vielen unterschiedlichen Ideologien, Philosophien und Glaubensformen an. In einer solchen Gesellschaft ist das Bemühen, jeden „zum Selben“ zu machen, sowohl sinnlos als auch dem Menschen gegenüber respektlos. Für eine so vielfältige Bevölkerung ist die einzige praktikable Regierungsform eine partizipative oder demokratische Regierungsform, bei der keine Gruppe, keine Mehrheit oder Minderheit die anderen beherrscht. Dasselbe gilt für Syrien, den Irak und andere Nachbarländer der Region.
In der Türkei oder anderswo haben autoritäre Machthaber die Unterschiede innerhalb der Gesellschaft ausgenutzt, um verschiedene Gruppen gegeneinander aufzuhetzen und die eigene Macht zu festigen. Welchen Glauben oder welche Weltanschauung sie auch haben mögen, Bürgerinnen und Bürger sollten auf Basis universeller Menschenrechte und Freiheiten zusammenkommen und in der Lage sein, denjenigen, die diese Rechte verletzen, demokratisch entgegenzutreten.
Freiheit ist ein gottgegebenes Recht
Sich gegen Unterdrückung zu äußern, ist ein demokratisches Recht, eine Bürgerpflicht und für Gläubige eine religiöse Pflicht. Der Koran sagt, dass Menschen gegen Ungerechtigkeit nicht schweigen sollten: „Oh ihr, die ihr glaubt. Seid Verteidiger und vorbildliche Verfechter der Gerechtigkeit, und bezeugt die Wahrheit Gott zuliebe, auch wenn es gegen euch selbst oder eure Eltern oder nahen Verwandten sein sollte.“ (4:135)
Durch das Leben gemäß dem eigenen Glauben oder der eigenen Weltanschauung, unter der Bedingung, anderen nicht zu schaden, und durch das Wahren grundlegender menschlicher Freiheiten, insbesondere der Meinungsfreiheit, wird eine Person zu einem wahrhaftigen Menschen. Freiheit ist ein Recht, das vom barmherzigen Gott gegeben ist, und niemand – auch kein Machthaber – kann dieses wegnehmen. Eine Person, die ihrer Grundrechte und -freiheiten beraubt ist, kann kein menschenwürdiges Leben führen.
Im Gegensatz zu den Behauptungen politischer Islamisten ist der Islam keine politische Ideologie, sondern eine Religion. Der Islam hat einige Prinzipien, die sich auf die Regierungsführung beziehen, aber diese machen höchstens fünf Prozent aller islamischen Prinzipien aus. Den Islam auf eine politische Ideologie zu reduzieren, ist das größte Verbrechen gegen sein Ethos.
„Den Islam auf eine politische Ideologie zu reduzieren, ist das größte Verbrechen gegen sein Ethos“
In der Vergangenheit haben diejenigen, die sich mit der islamischen Perspektive von Politik und Staat befassten, drei Fehler begangen: Erstens, vermischten sie die historischen Erfahrungen der Muslime mit den grundlegenden Quellen der islamischen Tradition, dem Koran und den authentischen Sprüchen und Praktiken des Propheten. Historische Erfahrungen von Muslimen und die Urteile der Juristen unter diesen Umständen sollten jedoch kritisch analysiert werden und können nicht den gleichen Stellenwert wie die authentischen Religionsquellen haben.
Zweitens haben Personen einzelne Verse des Koran oder Sprüche des Propheten herausgepickt, um ihre Perspektive zu legitimieren und sie dem Volk aufzuzwingen. Doch der Geist des Koran und der prophetischen Tradition (Sunnah) kann nur mit einer ganzheitlichen Sichtweise und mit der aufrichtigen Absicht verstanden werden, den Willen Gottes ausfindig zu machen.
Drittens kamen einige zu Unrecht zu dem Schluss, dass Demokratie grundsätzlich nicht mit dem Islam vereinbar sei, weil der Islam Gott zum einzigen Herrscher (Souverän) erkläre, während Demokratie auf der Herrschaft (Souveränität) des Volkes basiere. Kein Gläubiger bezweifelt, dass Gott Herrscher (Souverän) des Universums ist. Doch das bedeutet nicht, dass menschliches Handeln, und auch menschliches Denken, Wünschen und Wollen, nicht existierten oder von Gottes größerem Plan für die Menschheit ausgeschlossen seien. Dem Volk Souveränität zu geben, bedeutet nicht, Gottes Souveränität an sich zu reißen, sondern die Rechte und Regierungspflichten, die den Menschen von Gott geschenkt sind, den Diktatoren oder Oligarchen wegzunehmen und dem Volk zurückzugeben.
Der „Staat“ ist ein von Menschen geschaffenes System, um ihre Grundrechte und Freiheiten zu schützen und Gerechtigkeit und Frieden zu wahren. Der „Staat“ ist nicht Selbstzweck, sondern eine Einrichtung, die den Menschen dabei helfen soll, nach Glück im Diesseits und im Jenseits zu streben. Die Ausrichtung des Staates anhand von Grundsätzen und Werten ist die Summe der Ausrichtung aller Individuen, die den Staat mit diesen Grundsätzen und Werten bilden. Daher ist der Ausdruck „islamischer Staat“ ein Widerspruch in sich, ein Oxymoron. Genauso wie es im Islam keinen Klerus gibt, ist auch die Theokratie dem Geist des Islam fremd. Ein Staat ist das Ergebnis eines Vertrags zwischen Menschen, gemacht von Menschen, und er kann weder „islamisch“ noch „heilig“ sein.
Demokratien gibt es in allen Formen und Größen. Das demokratische Ideal, das diesen Formen zugrunde liegt, dass keine Gruppe über die anderen herrscht, ist auch ein islamisches Ideal. Das Prinzip der gleichberechtigten Staatsbürgerschaft steht im Einklang damit, die Würde eines jeden Menschen anzuerkennen und ihn als Kunstwerk, das von Gott geschaffen wurde, zu achten. Die partizipative Regierungsform, sei es Demokratie oder Republik, ist viel eher mit dem islamischen Geist vereinbar als mit anderen Regierungsformen, einschließlich Monarchien und Oligarchien. Das gegenwärtige Bild der türkischen Führung ähnelt eher einer Oligarchie als einer Demokratie. Was ist schiefgelaufen?
Das Bild der Türkei gleicht einer Oligarchie
Präsident Erdogan ruinierte die einst vielversprechende Demokratie der Türkei, raubte den Staatsapparat aus, konfiszierte Unternehmen und belohnte seine Anhänger. Um die Reihen hinter sich zu stärken und seine Macht zu festigen, erklärte er mich und die Mitglieder der Hizmet-Bewegung zum Staatsfeind und beschuldigte uns für jeden negativen Vorfall im Land in der jüngsten Vergangenheit. Die Suche nach einem Sündenbock wie aus dem Lehrbuch.
Die Regierung unter Präsident Erdogan hat mich und hunderttausende andere Menschen verfolgt — Kritiker jeder Couleur, vor allem aber der friedlichen Hizmet-Bewegung. Umweltaktivisten, Journalisten, Akademiker, Kurden, Aleviten, Nicht-Muslime und einige der sunnitisch-muslimischen Gruppen, die sich Erdogan gegenüber kritisch äußerten, erlitten die Konsequenzen seiner politischen Agenda. Das Leben der Menschen wurde durch Entlassung, Konfiszierung, Inhaftierung und Folter zerstört. Aufgrund der anhaltenden Verfolgung haben Tausende von Hizmet-Freiwilligen rund um den Globus Asyl beantragt, auch in Frankreich. Als neue Mitbürger sind sie verpflichtet, sich an die Gesetze der jeweiligen Länder zu halten, an der Lösung von Problemen der jeweiligen Gesellschaften mitzuwirken und der Verbreitung radikaler Islam-Interpretationen in Europa aktiv entgegenzuwirken.
In der Türkei geht eine massive Verhaftungswelle weiter, schuldig ist, wer zu einer Gruppe oder Person gehört. Die Zahl der Opfer dieser Verfolgungskampagne wächst ständig, über 150.000 Menschen verloren ihren Job, über 200.000 wurden festgenommen und über 80.000 verhaftet und eingesperrt. Menschen, die ins Visier politisch motivierter Verfolgung geraten sind und das Land verlassen wollen, wird ihr Grundrecht auf Reisefreiheit genommen, indem ihre Pässe annulliert werden.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1923 befand sich die türkische Republik trotz Rückschlägen durch Militärputsche auf einem Weg der kontinuierlichen Verbesserung in Richtung Demokratie. Erdogan ruiniert den Ruf, den die Türkische Republik auf internationaler Ebene erlangte, und wirft die Türkei zurück in die Liga der berüchtigten Nationen, die Freiheiten ersticken und Demokratie-Aktivisten inhaftieren. Die Machthaber missbrauchen die diplomatischen Beziehungen, indem sie staatliche Mitarbeiter und Ressourcen einsetzen, um Freiwillige der Hizmet-Bewegung in der ganzen Welt zu schikanieren, zu verfolgen und zu entführen.
Die türkische Demokratie befindet sich im Koma
Angesichts solcher Verfolgungen blieben die türkischen Bürgerinnen und Bürger in den letzten Jahren hinsichtlich ihrer demokratischen Forderungen gegenüber den Machthabern relativ passiv. Die Sorge um wirtschaftliche Stabilität ist eine mögliche Erklärung für dieses Verhalten. Wenn wir jedoch in die Vergangenheit zurückblicken, können wir feststellen, dass es auch eine historische Erklärung dafür gibt.
Trotz der Tatsache, dass demokratische Regierungsführung ein Ziel der neuen türkischen Republik war, wurden demokratische Werte niemals systematisch in der türkischen Gesellschaft verankert. Gehorsam gegenüber dem Staat und einer starken Führungskraft war schon immer ein fester Bestandteil der Bildungsinhalte. Die Militärputsche, die fast jedes Jahrzehnt stattfanden, gaben der Demokratie keine Chance, sich zu festigen und zu entwickeln. Die Bürger vergaßen, dass der Staat für die Menschen existiert und nicht umgekehrt. Man könnte sagen, dass Erdogan dieses kollektive Unterbewusstsein ausnutzt.
Die türkische Demokratie mag sich aufgrund der derzeitigen Führung im Koma befinden, aber ich bleibe optimistisch. Denn despotische Regierungen leben nicht lang. Ich glaube, dass die Türkei eines Tages auf den Weg zur Demokratie zurückkehren wird. Allerdings müssen mehrere Maßnahmen ergriffen werden, damit die Demokratie Fuß fassen und dauerhaft bleiben kann.
Die Türkei kann auf den Weg der Demokratie zurückkehren
Zuerst sollten die Lehrpläne neu bewertet werden. In den ersten Schuljahren sollten den Schülern Themen wie Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger sowie grundlegende Menschenrechte und Grundfreiheiten vermittelt werden, damit sie im Erwachsenenalter Hüter dieser Rechte sein können. Zweitens bedarf es einer Verfassung, die weder die Dominanz einer Minderheit noch die der Mehrheit zulässt und in jeder Situation die grundlegenden Menschenrechte schützt, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankert sind. Zivilgesellschaft und freie Presse sollten durch die Verfassung geschützt werden, um zu gedeihen und Teil der „checks and balances“ gegen die Staatsgewalt zu sein. Drittens sollten führende Persönlichkeiten demokratische Werte in ihren Reden und ihrem Handeln betonen.
Die Türkei ist inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem Demokratie und Menschenrechte außer Kraft gesetzt sind. Es scheint, als hätte sie eine historische Chance versäumt, eine Demokratie im Sinne der Europäischen Union mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung zu sein. Noch vor einem Jahrzehnt galt diese Perspektive als echte Möglichkeit.
Die Regierung eines Landes ist quasi der Schaum auf der Milch und besteht aus derselben Substanz wie die Flüssigkeit darunter. Das Führungspersonal einer Gesellschaft spiegelt – eventuell mit gewisser Ungenauigkeit und Verzögerung – die gesellschaftlichen Überzeugungen und Werte wider. Ich hoffe und bete, dass die jüngsten traurigen Erfahrungen der überwiegend muslimischen Länder zu einem Erwachen des kollektiven Bewusstseins führen, um demokratisch denkende Politiker und Regierungen zu schaffen, die nicht nur freie und faire Wahlen, sondern alle grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten hochhalten.
Hier finden Sie den originalen Gastbeitrag in französischer Sprache.
Hier finden Sie den Gastbeitrag in türkischer Sprache.
Quelle und Übersetzung ins Deutsche:
https://sdub.de/pm-guelen-lemonde/
Verband engagierte Zivilgesellschaft in NRW e.V.
Der „Verband engagierte Zivilgesellschaft in NRW e.V.” (VEZ NRW) ist ein Verband für Vereine in Nordrhein-Westfalen, die sich in den Bereichen Kultur, Bildung und Soziales engagieren. Gemeinsam mit den Mitgliedsvereinen möchte der VEZ NRW durch zivilgesellschaftliche Projekte Lösungsansätze für gesellschaftliche, sozio-kulturelle, und humanitäre Herausforderungen entwickeln. Ein weiterer Schwerpunkt der Verbandsaktivitäten liegt in der Förderung des ehrenamtlichen Engagements.
Im Juni 2014 ist der VEZ NRW durch die Zusammenarbeit von acht gemeinnützigen Gründungsmitgliedern initiiert worden. Die von der Hizmet-Bewegung inspirierten Gründer möchten ihren Mitgliedsvereinen, die sich in unterschiedlichen Bereichen engagieren, durch Vernetzung und Kooperationen Synergien verschaffen und zu ihrer Entwicklung beitragen. Ziel ist es, durch die Zusammenarbeit die gemeinnützigen Arbeiten bestmöglich zu gestalten. Aktuell zählt der Verband 63 Mitgliedsvereine.