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19. Dezember 2016Buchvorstellung und Gespräch mit Ercan Karakoyun
15. März 2017Dieser Text wurde aus dem Englischen übersetzt. Er wurde am 16. Mai 2017 in der US-amerikanischen Zeitung „The Washington Post“ veröffentlicht.
SAYLORSBURG, Pennsylvania (US) —Heute treffen sich im Weißen Haus der Präsident der USA, dem Land, welches ich seit 20 Jahren mein Zuhause nenne, und der Präsident meiner Heimat, der Türkei.
Für diese beiden Länder steht viel auf dem Spiel – darunter den Kampf gegen den IS, die Zukunft Syriens und die Flüchtlingskrise.
Jedoch ist die Türkei, die einst als hoffnungsvolles Land auf dem Weg zur Konsolidierung ihrer Demokratie und einer gemäßigten Form des Säkularismus galt, nicht mehr wieder zu erkennen. Sie leidet unter der Herrschaft eines Präsidenten, der alles dafür tut, um die ganze Macht an sich zu reißen und alle Oppositionelle zu unterwerfen.
Westen muss Türkei helfen
Der Westen muss der Türkei helfen, auf einen demokratischen Weg zurückzukehren. Das heutige Treffen und der NATO-Gipfel in der nächsten Woche sollten deshalb dazu genutzt werden, diese Bestrebung voranzutreiben.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan begann nach dem abscheulichen Putschversuch am 15. Juli letzten Jahres eine systematische Hexenjagd nach unschuldigen Menschen. Das Leben von mehr als 300.000 Menschen, darunter Kurden, Aleviten, Säkularisten, Linke, Journalisten, Akademiker und Engagierte der friedlichen humanitären Hizmet-Bewegung, mit der ich verbunden bin, wurde durch Verhaftungen, Entlassungen und diverse Methoden ruiniert.
Während und auch nach dem Putschversuch habe ich diesen auf das Schärfste verurteilt und jeglichen Putschvorwurf entschieden zurückgewiesen. Außerdem betonte ich, dass jeder, der am Putsch beteiligt gewesen ist, Verrat an meinen Idealen geübt hat. Dennoch beschuldigte Erdoğan mich den Putsch aus 5.000 Meilen Entfernung orchestriert zu haben – ohne jeglichen Beweis.
Gülen: „Ich bange ich um die türkische Bevölkerung“
Am Tag nach dem gescheiterten Putschversuch veröffentlichte die türkische Regierung eine Liste mit Namen von Tausenden Menschen, die mit der Hizmet-Bewegung in Verbindung gebracht wurden, da sie ein Konto bei einer bestimmten Bank hatten, Lehrer auf einer bestimmten Schule waren oder journalistische Tätigkeiten für eine bestimmte Mediengruppe ausübten. Als ob diese Umstände Straftaten wären, wurden diese Menschen wie Schwerverbrecher behandelt und ihr Leben ruiniert. Auf diesen Listen waren sogar Namen von Menschen aufgeführt, die bereits verstorben waren, oder auf dem NATO-Stützpunkt in Europa stationierte Soldaten waren. Viele internationale Beobachter haben von mehreren Entführungen, Folter und Todesfällen in Polizeigewahrsam berichtet. Die Regierung Erdoğans verfolgt und spioniert sogar unschuldige Menschen außerhalb der Türkei aus. So hat die türkische Regierung Druck auf die Regierung in Malaysia ausgeübt, damit diese drei Hizmet-Engagierte, darunter ein Schulleiter, der seit 15 Jahren in Malaysia lebt, festnehmen lässt und an die Türkei ausliefert – unter Gewissheit, dass diesen Gefängnis und auch Folter drohen.
Im April hat der türkische Präsident Erdoğan das Referendum – unter schwerwiegenden Betrugsvorwürfen – knapp für sich entschieden und somit ein Präsidialsystem errichtet, in welchem er alle drei Staatsgewalten kontrollieren kann. Bereits vorher hatte er durch „Säuberungen“ aus dem Staatsdienst und Korruption diese Gewalten größtenteils unter seine Kontrolle gebracht. In dieser neuen Phase des Autoritarismus bange ich um die türkische Bevölkerung.
Dabei begann alles ganz anders. Die AKP kam 2002 mit dem Versprechen demokratischer Reformen – das Ziel war die EU-Mitgliedschaft – an die Macht. Aber im Laufe der Zeit wurde Erdogan zunehmend intolerant gegenüber oppositionellen Stimmen. Mithilfe von staatlichen Regulierungsbehörden hat er dafür gesorgt, dass seine Anhängerschaft immer mehr Medienunternehmen übernommen haben. 2013 hat er die Gezi Park-Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen. Als im Dezember desselben Jahres bekannt wurde, dass Mitglieder seines Kabinetts in einen Korruptionsskandal verwickelt waren, reagierte er darauf mit der Unterjochung der Justiz und Presse. Der nach dem 15. Juli ausgerufene Ausnahmezustand dauert immer noch an. Laut Amnesty International sitzen ein Drittel aller inhaftierten Journalisten auf der Welt in türkischen Gefängnissen.
Diktatorisches Regime wäre für Sicherheit im Nahen Osten Albtraum
Erdogans Verfolgung und Unterdrückung der eigenen Bevölkerung ist keine innenpolitische Angelegenheit mehr. Die anhaltende Unterdrückung der Zivilgesellschaft, von Journalisten, Akademikern und Kurden in der Türkei bedroht die langfristige Stabilität des Landes. Die Gesellschaft ist bereits durch das AKP-Regime tief gespalten und polarisiert worden. Eine Türkei die sich in ein diktatorisches Regime verwandelt, radikalen Gruppen Schutz bietet und somit die kurdische Bevölkerung zum verzweifeln bringt, wäre für die Sicherheit im Nahen Osten ein Albtraum.
Die türkische Bevölkerung braucht die Unterstützung ihrer europäischen Verbündeten und der Vereinigten Staaten, um ihre Demokratie wiederherzustellen. Die Türkei hat im Jahr 1950 das Mehrparteiensystem eingeführt, um der NATO beizutreten. Nun kann und muss die NATO von der Türkei als Voraussetzung für die Fortführung ihrer Mitgliedschaft die Treue zu demokratischen Normen und universellen Werten fordern.
Nun gibt es zwei entscheidende Maßnahmen für die Umkehrung der demokratischen Regression in der Türkei.
Zuerst sollte eine neue zivile Verfassung mit Beteiligung aller Teile der Gesellschaft in einem demokratischen Prozess entworfen werden, die internationale Rechtsnormen und Wertesysteme berücksichtigt und Lehren aus etablierten, westlichen Demokratien zieht.
Zweitens muss ein Schulcurriculum entwickelt werden, das demokratische und pluralistische Werte hervorhebt und kritisches Denken fördert. Jede/r Schüler/in muss lernen, wie wichtig die Ausgewogenheit der Staatsmacht durch individuelle Rechte, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz und der Pressefreiheit ist und über die Gefahren des extremen Nationalismus, der Politisierung von Religion und der Verehrung des Staates oder eines Führers, aufgeklärt werden.
Vorher muss aber die türkische Regierung die Unterdrückung ihrer eigenen Bevölkerung und die Menschenrechtsverletzungen stoppen und die Opfer dieser Vergehen entschädigen.
Ich werde wahrscheinlich nicht erleben, wie die Türkei den Status einer vorbildlichen Demokratie erreicht, aber mein aufdringlicher Wunsch ist, dass sie sich vom Autoritarismus abwendet, bevor es zu spät sein wird.